Die Nacht in der Bothy war unruhiger als erwartet. Aber mir ist warm. Zu warm. Ich schlüpfe aus meinem Schlafsack, und in der kleinen Hütte herrscht schon stetiges Treiben. Der Duft von Kaffee und feuchter Wanderkleidung liegt in der Luft. Wir frühstücken in Ruhe, unsere heutige Etappe ist nicht sehr lang, also haben wir Zeit.

Irgendwann sind wir dann aber doch startklar und das Wetter sieht gar nicht so übel aus. Die Sonne wirft gerade ihre ersten Strahlen über den Berg neben uns. Am nächstbesten Bachlauf füllen wir unsere Wasserflaschen auf, den darauf folgenden Bach überqueren wir über eine Holzbrücke.

Eine verfallene Ruine weist uns in Richtung Tagesziel: Sligachan. Sligachan ist ein kleines Dorf, umgeben von der wilden Schönheit der schottischen Highlands. Es liegt am Fuße des Cuillin-Gebirges und ist bekannt für seine alte Steinbrücke und die Legende, dass man ewige Schönheit erlangt, wenn man sich im Fluss Sligachan wäscht. Ich bin gespannt.

Der Weg ist eine Mischung aus Sumpf und Bachlauf auf Kies, wirklich angenehm ist das nicht zu gehen. Nach kurzer Zeit erreichen wir Loch na Creitheach, einen kleinen See mit sandigen Ufer, hier wäre ein richtig guter Platz zum Zelten gewesen. Unser Weg schlängelt sich zwischen den Bergen hindurch und schon bald stehen wir vor einem Fluss. Nicht tief, aber breit. Wir versuchen, trockenen Fußes hinüber zu kommen, so ganz gelingt uns das aber leider nicht.

Natürlich setzt plötzlich Regen ein, und wir ziehen hastig unsere Regensachen über. Doch kaum haben wir sie angezogen, bricht die Sonne wieder durch die Wolken – ein ständiges Spiel von Licht und Schatten. Dann plötzlich: Ein reißender Fluss versperrt uns den Weg. Diesmal kein plätschernder Bach, sondern eine tosende Barriere, wild und unberechenbar. Puh, wie sollen wir da rüber kommen? Katrin lacht nervös, als wir uns dem reißenden Fluss nähern, ihre Schritte langsamer, während wir prüfend das Ufer absuchen. Ich mache mutig den Anfang. Adrenalin schießt mir durch den Körper, als der Stein unter mir nach einem großen Schritt mächtig anfängt zu wackeln. Zum Glück falle ich aber nicht. Katrin nimmt den gleichen Weg, Bernd ist aber immer noch unentschlossen. Nach einem abgebrochenen Versuch an einer anderen Stelle entschließt er sich schließlich dazu, durch das kalte Wasser zu furten. Kniehoch steht er in der Strömung, Katrin und ich schauen ihm angespannt zu. Als wir alle sicher auf der anderen Seite sind, gibt es erstmal einen Schluck Whisky zur Belohnung.

Langsam weitet sich das Tal und der Horizont öffnet sich wie eine Einladung zur Pause, bevor ich schonmal vorsorglich meinen Rucksack in die Regenhülle stopfe. Der Himmel wird verdächtig dunkel. Bis nach Sligachan ist es nicht mehr weit. „Hast du das Gefühl, bei solchen Wanderungen vor etwas davonzulaufen?“ frage ich Bernd. „Nein, ganz im Gegenteil“ antwortet er. „Ich diesmal schon,“ sage ich, und lasse mich ein wenig zurückfallen. Irgendetwas drängt mich vorwärts, weg von allem, was ich zurückgelassen habe – doch ein leiser Zweifel bleibt. Kann man dem wirklich entkommen? Er lächelt mich verständnisvoll an und ich bin froh, dass es keiner weiteren Worte bedarf, waren wir doch ein Jahr zuvor zusammen in Grönland, als die ernüchternde Diagnose kam. Ich lasse mich ein wenig zurückfallen und Bernd wirft mir einen kurzen, prüfenden Blick über die Schulter zu. Es ist, als ob er ahnen würde, was in mir vorgeht und ich bin froh, dass er nichts sagt. Die Berge um uns wirken plötzlich wie stumme Zeugen meiner Rastlosigkeitt, stumm und wachsam. Es treibt mich weiter, fort von all dem, was ich hinter mir gelassen habe. Nach der nächsten Kurve taucht Sligachan vor uns auf. Der Ort besteht aus der berühmten Steinbrücke, einem Hotel, einem Campingplatz und noch einem undefinierbaren Gebäude. Wir haben jetzt auch wieder Handyempfang und ich schicke schnell eine Nachricht nach Hause.

Sligachan

Der Ort ist voller Touristen und auf der Brücke werden wir von einem sehr schottischen Schotten angesprochen, woraus sich eine amüsante Unterhaltung entwickelt. Der Campingplatz ist groß und es ist genügend Platz. Die Sonne scheint wieder und ich schlüpfe aus den nassen Wanderschuhen und baue barfuß mein Zelt auf. Eine Wohltat für die müden Füße. Die Lage zuhause ist mehr als angespannt und ich ziehe mich in mein Zelt zurück, weine viel, zweifle an der Entscheidung, trotz allem diese Reise angetreten zu haben, bin wütend auf mich und verletzt. Ich telefoniere mit meiner Mutter, die versucht mich zu beruhigen und zu schlichten, die Nerven liegen blank. Ich nehme eine heiße Dusche und versuche einen klaren Kopf zu bekommen.

Dann gehen wir in die dem Hotel anliegende Kneipe, die berühmt für ihre 300 Whiskysorten ist. Vielleicht bekommen wir dort auch eine Kleinigkeit zu essen. Der schwere Duft von Holz und Torf füllt die Luft, während wir auf das Essen warten. Um uns herum lautes Lachen und schottische Akzente, die wie eine fremde Melodie klingen.

Aus der Kleinigkeit wurde ein großer Burger mit Pommes und ein Brownie mit Vanilleeis und Karamellsoße. Und Whisky trinken wir natürlich auch.

Die Vorwürfe von Zuhause hören nicht auf, sie nagen an mir wie eine Wunde, die immer wieder aufbricht. Um die Stimmung nicht weiter zu belasten, verabschiede ich mich früh von den beiden und schlüpfe allein in mein Zelt, meinen letzten Rückzugsort. Ich liege im Dunkeln und spüre, wie sich das Zelt über mir wölbt, ein dünner Stoff zwischen mir und der Welt. Ein fragiles Dach über all den aufgestauten Gefühlen – vielleicht zu fragil, um sie wirklich zu schützen. Im Zelt scheint sich die Dunkelheit um mich zu verdichten. Ein stiller Käfig für all die Gefühle, die ich wegsperren wollte. Alles, was ich hinter mir zu lassen hoffte, holt mich ein, schwer und unvermeidlich wie der Schatten, der über meinem Zuhause hängt. Heiß und unaufhaltsam strömen die Tränen und ich frage mich, ob diese Flucht wirklich eine Lösung war oder ob ich nur noch tiefer in mein eigenes Verderben laufe.

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