Ich starre auf die Nachricht von meiner Mutter, die auf meinem Display steht: „Ich glaube es wäre besser wenn du nach Hause kommst“. Mein Kopf ist leer, und gleichzeitig schwirren so viele Gedanken durcheinander, dass ich keinen fassen kann. Schweigend sitze ich am Frühstückstisch, starre auf mein Handy und spüre, wie das Essen mir im Hals stecken bleibt, während ich nach der besten Möglichkeit suche, zurück nach Hause zu kommen. Erst als ich einen ungefähren Plan habe, blicke ich vom Handy auf. „Ich fliege nach Hause“, presse ich hervor.  Niemand sagt etwas, wir alle wussten, dass das passieren kann.

Eine Freundin unterstützt mich aus Deutschland bei der Zugbuchung, weil natürlich irgendwas nicht funktioniert. Meinen Flug buche ich, während wir los gehen. Die heutige Etappe laufe ich noch bis zum Old man of Storr mit, dort werde ich den Bus nehmen.

Schweigsam setze ich einen Fuß vor den anderen, während wir Portree verlassen. Die heutige Etappe verspricht grandiose Ausblicke und einige Höhenmeter – doch Vorfreude? Fehlanzeige.

Für einen Moment vergesse ich meine Sorgen, als wir über eine alte Steinmauer klettern, die als Weidezaun dient. Vorher sind wir drei mal hin und her gelaufen um uns zu vergewissern, dass das da wirklich der Weg ist. Auf der anderen Seite des Zauns stehen sie – zottelige Hochlandrinder mit imposant geschwungenen Hörnern. Ihre dunklen Augen mustern uns ausdruckslos, und doch halte ich unwillkürlich den Atem an, als wir das feuchte Gras überqueren. Mein Herz klopft schneller, obwohl die Tiere sich keinen Millimeter bewegen. Zum Glück bleiben sie reglos wie Statuen. Dennoch bin ich froh, als wieder ein Zaun zwischen uns ist. Der Pfad windet sich in Serpentinen durch die hügelige Landschaft, doch irgendwann verliert er sich zwischen kniehohem Farn und Gras. Wir bleiben stehen, drehen uns suchend um, aber alles, was wir sehen, ist das endlose Grün, das sich im Wind wiegt. ‚Ich glaube, da hoch‘, sage ich und deute auf einen schmalen Hang, der irgendwo im Nebel verschwindet. Meine Beine brennen, mein Atem geht schwer, und bei jedem Schritt rutscht der schlammige Boden unter meinen Füßen weg. Es gibt keinen Weg – nur die Richtung: nach oben.

Der kalte Wind peitscht mir ins Gesicht und zerrt an meinem Rucksack. Wir genießen nach Atem ringend die ersten grandiosen Ausblicke und lassen die Stille auf uns wirken. Und rätseln, welchem Pfad wir weiter folgen sollen. In der nächsten Kurve finden wir ein bereits verwesendes totes Schaf. Ein Anblick, den ich schnell vergessen möchte

Plötzlich öffnet sich vor uns der Blick auf die Klippen. Steil und schroff fallen sie ins Meer ab, das irgendwo unten mit weißem Schaum an die Felsen schlägt. Der Wind reißt an unseren Pullis und zu höre ich das dumpfe Platschen, wenn ich in eine Pfütze trete. Ich trete vorsichtig näher an den Abgrund, das Gefühl der Freiheit in meinen Lungen gemischt mit einer leisen Angst. Die Aussicht ist atemberaubend und wir machen eine kleine Pause um Fotos zu machen, noch ist es trocken, für den Nachmittag ist Regen angesagt. Ich schiebe die aufkommende Traurigkeit ganz weit weg und bin dankbar für den Moment.

Entlang der Klippe setzen wir unseren Weg fort und müssen schon bald einige Meter absteigen, Weg vom Meer. Hier ist es matschig und mega rutschig. Wir machen Pause um etwas zu essen. Ich kaue auf dem Müsliriegel herum, der angeblich nach Pizza schmecken soll, aber in Wahrheit nur wie gesalzenes Pappkarton schmeckt. Wenigstens lenkt es mich für einen Moment von der Anstrengung ab. Wir teilen auch noch eine Dose Bier. Dann ziehen wir die Regensachen über. Die Wolken hängen schwer und dunkel am Himmel, als würden sie jeden Moment auf uns herabstürzen. Der Regen ist viel zu früh dran, es ist erst Mittag. Ich ziehe die Kapuze enger, aber die Feuchtigkeit kriecht trotzdem unter meine Jacke. Vor uns taucht jetzt immer wieder der Old man of Storr auf. Und natürlich Schafe.

Ab hier geht es stetig bergab. Der schmale Pfad schlängelt sich wie eine brüchige Linie durch die hügelige Landschaft. Pfützen haben sich in den Rillen des matschigen Bodens gesammelt, und ich balanciere auf den Grasbüscheln dazwischen, um meine Schuhe trocken zu halten – vergeblich. Dennoch kommen wir gut voran Das ist gut, schließlich darf ich meinen Bus auf keinen Fall verpassen.

Das Sumpfgebiet vor uns gleicht einem Minenfeld. Das Gras scheint fest, doch jeder zweite Schritt endet in einem matschigen Sog, der meine Schuhe zu verschlucken droht. Der Matsch schmatzt und platscht, das Wasser läuft in meine Socken, kalt und beißend. Nach wenigen Metern habe ich aufgegeben, meine Füße trocken zu halten. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, nicht komplett im Schlamm zu versinken.

Dann erreichen wir auch schon die kleine Bushaltestelle am Old man of Storr, dem Highlight des ganzen Skye Trails. Ich überlege noch, meinen Rucksack stehen zu lassen und die beiden nach oben zu begleiten. Das ist zeitlich aber eine ziemlich enge Nummer und so entscheide ich, einfach den nächsten Bus nach Portree zu nehmen, der kommt und dort die Zeit totschlagen, bis mein Anschlussbus kommt. Fast 14 km und 600 Höhenmeter liegen hinter mir. Ich bin nass und kalt und habe noch einen Höllentrip nach Hause vor mir.

Etwa eine Stunde später sitze ich in einem kleinen Café in Portree und halte einen heißen Kakao in den Händen. Der Duft steigt mir in die Nase, und ich denke daran, wie mein Vater beim Skifahren immer gesagt hat: ‚Ein Kakao ist das beste Getränk gegen Kälte.‘ Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht – und verschwindet wieder, als die Realität zurückkehrt. Die Wärme des Kakaos scheint plötzlich nicht mehr auszureichen. In der Apotheke habe ich vorher schon Reisetabletten gekauft, damit mir von der Busfahrt nicht wieder schlecht wird. Ich wechsle in mein letztes paar frische Socken, die ein bisschen gegen das Frieren helfen.

Wäre ich doch schon zuhause.

Im Bus nach Inverness treffe ich die drei Schweizerinnen aus der Camanusary Bothy wieder und bin irgendwie froh, dass sie wegen Reisekrankheit nicht viel reden möchten. Ich gebe ihnen meine Tabletten und starre in die aufkommende Dunkelheit. In Inverness steige ich in den Zug nach Aberdeen. Es ist spät und es sind kaum Reisende unterwegs, dennoch kann ich kein Auge zu machen. Zu viele Sorgen halten mich wach.

Von Aberdeen aus geht es dann mit dem Bus weiter nach Glasgow.  In Aberdeen verlasse ich das Bahnhofsgebäude. Die kleinen, dunklen Gassen sind gespenstisch leer, und jeder Schatten scheint sich zu bewegen. Ich ziehe meinen Rucksack enger an mich und gehe schnell weiter, mein Blick fest auf den Boden gerichtet. Noch ein Bus. In Glasgow muss ich dann nochmal warten, um den Bus zum Flughafen zu nehmen. Meine Hände zittern, ob vor Kälte oder vor Müdigkeit, kann ich gar nicht sagen. Jeder Muskel in meinem Körper schreit nach Ruhe. „Nur noch ein Bus“, sage ich mir immer wieder, wie ein Mantra, das mich vorwärts treibt. „Nur noch ein Bus.“

Morgens um 8:30 Uhr erreiche ich dann endlich den Flughafen, nachdem ich einmal durch ganz Schottland gereist bin. Mein Körper ist erschöpft, mein Kopf leer. Ich ziehe mir meinen Schlauchschal über das Gesicht und schlafe auf meinen Rucksack gelehnt ein. Zuhause warten noch 2-3 h Autofahrt auf mich, ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Mein Flieger geht mittags und den Flug verschlafe ich fast komplett. Meine Sitznachbarin war so nett, mir das Wasser aufzubewahren, das verteilt wurde. Aber irgendwie schaffe ich ich das noch und komme heile zuhause an. Rechtzeitig.

Meine Mutter weckt meinen schlafenden Vater. „Lara ist aus Schottland wieder da“. Mein Vater lächelt, müde, aber warm. Ich drücke seine Hand und spüre, wie ein Knoten in meiner Brust sich für einen Moment löst. Dieses Lächeln werde ich nie vergessen – es ist das letzte Mal, dass ich ihn lachen sehe.

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